Freiheit zur Krankheit / Zwangsbehandlung / mutmaßlicher Wille des Betreuten

Dem Patienten steht es aufgrund seiner Patientenautonomie frei, einer angebotenen medizinischen Maßnahme zuzustimmen oder sie abzulehnen (Doktrin des informedconsent, d. h. auf einer Aufklärung beruhenden Einwilligung in eine ärztliche Maßnahme). Das Selbstbestimmungsrecht ist die Grundlage der Patientenautonomie, d. h. der Patient trifft auf der Grundlage seiner eigenen Werte, religiösen Weltanschauungen und Wünsche seine eigene Entscheidung dahingehend, ob er sich medizinisch behandeln lassen möchte oder nicht. Er legt selbst fest, was seinem Wohl entspricht. Dieses Selbstbestimmungsrecht wurzelt in der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde, es steht jedem Menschen zu, auch den psychisch Kranken und Behinderten. Deshalb haben auch psychisch Kranke oder Behinderte die „Freiheit zur Krankheit“ (BVerfGE 58, 208 (225).

Für das Betreuungsrecht wurde dieses Thema durch die neu eingeführten §§ 1901 ff.  BGB in Zusammenhang mit den darauf abgestimmten §§ 312 ff. FamFG geregelt.

Wann ist es zulässig, dass der Betreuer entgegen dem natürlichen (tatsächlichen) Willen des Betreutenin eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung einwilligt?

Teil I

Früher wurde diese Frage durch die analoge Anwendung der §§ 1906, 1901 BGB geklärt. Inzwischen hat der BGH in zwei Entscheidungen festgelegt, dass diese analoge Anwendung nicht zulässig ist, da sich die Regelungen des § 1906 BGB nur auf die Unterbringung des Betroffenen richten und nicht analog auf die Betreuung angewendet werden dürfen. Deshalb wurde diese Lücke durch die Neuregelung der §§ 1901 ff. BGB für das Betreuungsrecht geschlossen.

Gerade dann, wenn sich der Betreute in einer krankheitsbedingten Krisensituation befindet,  in der er die medizinische Behandlung ablehnt, einer Behandlung  nach objektiven Maßstäben jedoch dringend bedürfte,  ist das Problem der Zwangsbehandlung gegeben. In diesem Fall ist die Einwilligung des Betreuers in eine etwaige Behandlung des Betroffenen gegen seinen natürlichen Willen erforderlich, § 1901a BGB. Der natürliche Wille umfasst die tatsächlich vorhandenen Absichten und Wünsche, Wertungen und Handlungsintentionen eines Menschen, auch wenn er sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Der natürliche Wille ist – gerade im Betreuungsrecht – nicht bedeutungslos, sondern im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu beachten. Denn in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Leben des Betreuten darf nur nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden, auch wenn die einzelnen, individuellen Situationen nach objektiven Maßstäben eine andere Beurteilung zulassen würden.

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist dann gewahrt, wenn eine Handlung gegen den natürlichen Willen des Betreuten notwendig ist, um eine erhebliche Gefahr von ihm abzuwenden und die Handlung das mildeste mögliche Mittel ist und dem mutmaßlichen Willen des Betreuten nicht entgegensteht.

Handlungsmaßstab ist  dabei das Wohl des einzelnen Betroffenen.

Teil II

Wenn der Betreute eine wirksame Patientenverfügung verfasst hat, die eine ärztliche Behandlung in der konkreten Krankheits- und Behandlungssituation ablehnt oder nur bestimmte Maßnahmen erlaubt, ist der Inhalt dieser Verfügung für den Betreuer maßgeblich. Dann ist eine medizinische Zwangsmaßnahme unabhängig vom derzeitigen Stadium der Krankheit  gegen den Willen des Betreuten nicht zulässig, beziehungsweise nur in Bezug auf die genannten bestimmen Maßnahmen zulässig. Wichtig hierbei ist natürlich, dass es sich auch wirklich um eine wirksame Patientenverfügung handelt, z. B. in Form einer psychiatrischen Verfügung oder einer Behandlungsvereinbarung.

Sollte der Betroffene keine Patientenversorgung verfasst haben, oder die erforderliche Maßnahme eben nicht von einer solchen gedeckt sein (s.o.), muss der Betreuer für die Zulässigkeit seiner Entscheidung  den mutmaßlichen Willen des Betroffenen zugrunde legen. Dieser ist  in medizinischer und pflegerischer Hinsicht in vielen Fällen der Dreh- und Angelpunkt und hat dadurch in der Realität einer der in Patientenverfügungen festgelegten Willensäußerung vergleichbare Dimension.

Aus § 1901a BGB ergibt sich, dass für den mutmaßlichen Willenmaßgeblich ist, was der Betreute wollen würde.  Zu beachten hierbei sind frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen des Betroffenen,  seine ethischen oder religiösen Überzeugungen und sonstigen persönlichen Wertvorstellungen.

Teil III

Die Feststellung des mutmaßlichen Willens bereitet  in der Praxis oft enorme Schwierigkeiten. Anders als der tatsächliche (natürliche) Wille, welcher vom Patient selbst in der aktuellen Situation geäußert wird, muss der mutmaßliche Wille von außen erschlossen werden.  Der Inhalt des Willens muss konkret und individuell manifestiert worden sein, es ist bei der Ermittlung nicht auf objektive, allgemein gültige Wertvorstellungen zurückzugreifen. Sie können höchstens Anhaltspunkte für die Feststellung des hypothetischen Willens sein.Dies führt zu erheblichen Problemen, da es in den Einzelfällen nicht oft der Fall sein wird, dass viel fundiertes, nachvollziehbares Gedankengut im Umkreis des Patienten zu finden sein wird.  Wie lässt sich praxisorientiert feststellen, was der Patient zu diesem Thema individuell auf sich bezogen geäußert hat?  Bei  Anlegung strenger Maßstäbe an den mutmaßlichen Willen fällt es oft schwer,  hinreichend konkrete Äußerungen oder Meinungen des Patienten zu ermitteln.  Weitere subjektive Kriterien, den Willen des Patienten zu ermitteln, sind z. B. Informationen von nahestehenden Personen oder Familienmitgliedern, mit denen sich der Betroffene über dieses Thema unterhalten hat. Außerdem auch Informationen von behandelnden Ärzten, mit denen früher darüber gesprochen wurde.

Dabei ist dem Gesetz nicht zu entnehmen,  wie streng die Anforderungen an die Willensermittlung sind und mit welcher Sicherheit der Inhalt des Willens festgestellt werden muss. Soweit keine Patientenverfügung vorliegt und – wovon im Regelfall auszugehen sein wird – der Betroffene sich auch sonst nicht schriftlich zu diesem Thema geäußert hat – reichen dann Indizien aus, um den Willen in ausreichendem Maße feststellen zu können? Oder ist eine – wie z. B. bei einem Abbruch von künstlicher Ernährung – „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ notwendig, die auf genaueren Erkenntnissen beruht?

Falls es trotz aller Bemühungen nicht möglich ist, den mutmaßlichen Willen des Betroffenen hinreichend sicher und konkret zu bestimmen, stehen sich zwei Spannungsfelder gegenüber. Um einen der oberste Grundsatz des Betreuungsrechtes, der darauf gerichtet ist, den Willen des Betreuten zu respektieren und im Sinne seines subjektiven Wohls zu handeln, also die medizinische Maßnahme eventuell zu unterlassen.Auf der anderen Seite stehen die vom Staat umfassend geschützten hohen Rechtsgüter auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

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