Freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Pflegeeinrichtungen können spürbar reduziert werden – mit den richtigen Mitteln

Verursacht durch verschiedene Faktoren sieht der Alltag in Pflegeeinrichtungen für viele Betroffene so aus, dass sie stundenlang am Bett, Rollstuhl usw. fixiert oder durch entsprechende Medikamente ruhiggestellt werden. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, die Schlagworte Pflegenotstand, Personalmangel, fehlende finanzielle Mittel kennen wir alle. Wir wissen auch, dass es in einer großen Zahl von Fällen überhaupt nicht erforderlich wäre, die Lebensqualität der Betroffenen durch derart einschneidende Maßnahmen noch mehr zu beeinträchtigten. Aber die tägliche Praxis lässt sich – vermeintlich – oft nicht anders bewältigen.
Die Arbeitsabläufe an den Betreuungsgerichten haben hinsichtlich der Genehmigung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen einen bedenklichen Automatismus angenommen. Die Gründe hierfür sind zu einem großen Teil in der extremen Arbeitsüberlastung der Gerichte zu suchen. Eine gewissenhafte Einzelfallprüfung durch das Gericht, ob die beantragte Maßnahme auch wirklich die geeignete und vor allem die am wenigsten belastende ist, ist in den meisten Fällen aufgrund Arbeitsüberlastung auf allen Seiten rein praktisch gar nicht möglich. Aber auch die Angst der Einrichtungen, eventuellen Haftungsrisiken ausgesetzt zu sein, trägt dazu bei, dass eher massivere Maßnahmen beantragt werden, als weniger einschneidende, die die Betroffenen eventuell zu wenig „schützen“ könnten. Um diesen Missständen wirksam entgegenzuwirken, wurde im Jahr 2007 das  vielbeachtete Projekt des „Werdenfelser Weges“ ins Leben gerufen.

Dieses Projekt hat Modellfunktion und zeigt, dass es mit entsprechendem Einsatz sehr wohl möglich ist, trotz der vielen praktischen Schwierigkeiten das Leben für die Betroffenen freier und damit angenehmer und lebenswerter zu gestalten. Die Gründer dieser Initiative kommen aus Garmisch-Partenkirchen und sind im Jahr 2012 mit dem Janssen Zukunftspreis für das Gesundheitswesen ausgezeichnet worden. Das Ziel des „Werdenfelser Weges“ ist es, freiheitsentziehende Maßnahmen (Fixierungen) in Pflegeeinrichtungen drastisch zu reduzieren. Durch ein gut aufeinander abgestimmtes System verschiedener Prüfungs- und Überwachungsschritte und berufsübergreifender Zusammenarbeit von rechtlichen, medizinischen und pflegenden Fachleuten wird dieses Ziel mit großem Erfolg inzwischen auch außerhalb Bayerns verfolgt und umgesetzt.
Ansatzpunkt der Idee ist das Genehmigungsverfahren nach § 1906 Abs. 4 BGB. Das Kernstück besteht darin, eine gemeinsame (!) verantwortungsvolle Abwägung aller relevanten Aspekte im Einzelfall durchzuführen und die aufgrund dieser Abwägung getroffene Entscheidung hinsichtlich der infrage stehenden Maßnahme – wenn angebracht – auch zu überwachen. Dadurch kann immer wieder neu auf individuelle Anforderungen reagiert werden und die notwendigen Maßnahmen können angepasst, noch weiter reduziert oder Alternativlösungen entwickelt werden.

Besonders wichtig ist hierbei der Aspekt, dass berufsübergreifend zusammengearbeitet wird. Alle Beteiligten, also insbesondere das Betreuungsgericht, die Betreuungsbehörde, der Betreuer, Rechtsanwälte, das Pflegepersonal und die Ärzte bilden dabei eine Arbeitsgruppe, die durch regelmäßigen Erfahrungsaustausch gemeinsam entscheidet,  ob überhaupt und wenn ja, welche Mittel und Maßnahmen für den Einzelfall – immer unter dem Gesichtspunkt der maximalen Schonung des Betroffenen – angebracht sind. Auch die Pflegeeinrichtungen werden hinsichtlich der bestehenden Haftungsrisiken besser informiert und so von manchmal  ungerechtfertigten Unsicherheiten befreit.

Eine tragende Rolle übernimmt der speziell ausgebildete Verfahrenspfleger, der den Betroffenen zur Seite gestellt wird. Dieser zeichnet sich nicht nur durch rechtliche Fachkenntnisse aus, sondern vor allem auch durch pflegerisches Wissen. Deshalb werden als Verfahrenspfleger im Rahmen des  „Werdenfelser Weges“ bevorzugt Personen eingesetzt, die einen Pflegeberuf erlernt haben, über entsprechende Berufserfahrung verfügen und auch rechtlich hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen speziell ausgebildet sind.
Bundesweit gibt es inzwischen immer mehr Einrichtungen, die sich dazu entschließen, das Projekt „Werdenfelser Weg“ durchzuführen, was dazu führt, dass die Zahl der Fixierungen inzwischen erheblich reduziert wurde.
Susanne Kilisch
Wiss. Mitarbeiterin

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