Gerichtliche Genehmigung für die Anordnung und Durchführung ärztlicher Sicherungs – und Zwangsmaßnahmen trotz Vorsorgevollmacht nötig?

Diese grundsätzliche Rechtsfrage hat das BGH am 10.06.2015 (AZ: 2 BvR 1967/12) entschieden. Es ging um eine ältere Dame, die in einem Seniorenpflegeheim untergebracht war. Ihr Sohn hatte eine notarielle General – und Vorsorgevollmacht, die ihren Sohn bevollmächtigte: „soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit
betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einwilligung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen.“

Unter „§ 3 Bereich der gesundheitlichen Fürsorge und des Selbstbestimmungsrechts“ heißt es zur
Unterbringung:
„Die Vollmacht berechtigt dazu, meinen Aufenthalt zu bestimmen. Die Generalvollmacht umfasst auch die Befugnis zu Unterbringungsmaßnahmen im Sinne des § 1906 BGB, insbesondere zu einer
Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, zur sonstigen Unterbringung in einer
Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung sowie zur Vornahme von sonstigen
Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente o.a. auch über
einen längeren Zeitraum.“

Nachdem die ältere Dame mehrfach aus einem Stuhl und aus ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte der Sohn in Ausübung der Vollmacht ein, Gitter am Bett der Beschwerdeführerin zu befestigen und diese Tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren.
Das Amtsgericht genehmigte mit Beschluss vom 23.09.2011 die Einwilligung des Vollmachtnehmers in die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. Der Sohn wandte sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts mit der Begründung, dass seine Mutter keine Kontrolle durch staatliche Einrichtung gewollt hat und dies in der Vollmacht durch ihre Formulierung, dass Entscheidungen „ohne Einschalten des Vormundschaftsgerichts“ getroffen werden unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe.

Die Beschwerdeführerin zu 1. erreichte im Sommer 2012 die Pflegestufe III. Nachdem sie mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett auf den Boden gefallen war und sich dabei Verletzungen zugezogen hatte, willigte der Beschwerdeführer zu 2. in Ausübung der Vollmacht ein, Gitter am Bett der Beschwerdeführerin zu 1. zu befestigen und diese tagsüber mit einem Beckengurt im Rollstuhl zu fixieren.

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 23. September 2011 genehmigte das Amtsgericht Heilbronn die Einwilligung des Beschwerdeführers zu 2. in die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen. § 1906 Abs. 5 BGB sei anwendbar; das Amtsgericht könne die Norm nicht wirksam für verfassungswidrig erklären oder ignorieren. Ein Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG sei nicht angezeigt, da das
Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 7. Januar 2009 – 1 BvL 2/05 (BVerfGK 15, 1) – keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 1906 BGB geäußert habe.

In ihrer gegen diesen Beschluss eingelegten Beschwerde führten die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. aus, dass die Beschwerdeführerin zu 1. keine Kontrolle durch staatliche Einrichtungen gewollt und dies in ihrer Vollmacht durch die Formulierung, Entscheidungen sollten „ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts“ getroffen werden, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht habe. Das Amtsgericht habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob §1906 Abs. 5 BGB dispositiv sei und von der Betroffenen in Anwendung ihres verfassungsrechtlich abgesicherten Selbstbestimmungsrechts ausgeschlossen werden könne. § 1906 Abs. 5 BGB müsse im Lichte des Grundgesetzes gesehen werden und deshalb zwingend von dem betroffenen Personenkreisabbedungen werden können; andernfalls sei die Norm verfassungswidrig. Nach dem Recht auf Selbstbestimmung könne jede Person zu ihrem eigenen Schutz auf gesetzliche Kontrollrechte verzichten. Diese Rechtsauffassung sei auch vom Willen des Gesetzgebers getragen, was sich an der 2009 neu geschaffenen Regelung zur verbindlichen Patientenverfügung zeige. Überdies wohne die Beschwerdeführerin zu 1. in einem Pflegeheim und werde durch wechselndes Personal betreut, mindestens einmal im Monat komme ein Hausarzt zur Kontrolle. Bei Missbrauch der Vollmacht gebe es das Instrument der Kontrollbetreuung nach § 1896 Abs. 3 BGB, weswegen eine weitere gerichtliche Kontrolle nach § 1906 Abs. 5 BGB nicht erforderlich, sondern lediglich formale Gesetzespflicht sei.

 

Nachdem das Amtsgericht der Beschwerde mit Beschluss vom 2. Dezember 2011 nicht abhalf, wies
das Landgericht Heilbronn sie mit angegriffenem Beschluss vom 15. Dezember 2011 als unbegründet zurück. Mit der General- und Vorsorgevollmacht habe die Betroffene nicht auf das
betreuungsgerichtliche Verfahren zur Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen verzichtet. Der durch § 1906 Abs. 4 BGB in Bezug genommene § 1906 Abs. 2 BGB konkretisiere die
Verfahrensgarantie des Art. 104 Abs. 2 GG. Dieser im Grundgesetz verankerte formale Schutz, dem zufolge über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung ein Richter zu entscheiden habe, könne nicht durch rechtsgeschäftliche Erklärungen eines Betroffenen aufgegeben werden. Die einseitige Berufung auf das durch Art. 1 und 2 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht führe nicht weiter. Zu beachten sei auch die mit Art. 104 Abs. 2 GG untrennbar im Zusammenhang stehende materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 GG. Außerdem übersehe die Beschwerde, dass bei Aufgabe des betreuungsgerichtlichen Schutzes dem Missbrauch der Vollmacht auch durch die Anordnung einer Kontrollbetreuung nicht mehr begegnet werden könne.
3. Mit ihrer gegen den Beschluss des Landgerichts eingelegten Rechtsbeschwerde rügten die
Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2. eine Verletzung des
Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin zu 1. aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe zwar in BVerfGK 15, 1 ausgesprochen, dass der
Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 BGB dem Schutz der Betroffenen diene. Der Beschluss
habe aber auch die Frage aufgeworfen, ob die Kontrolle zur Sicherung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen zugleich einen Eingriff in deren Selbstbestimmungsrecht darstellen könne. Diese Frage sei zu bejahen. Die Betreuung tangiere stets die Freiheit der Selbstbestimmung und habe einen Doppelcharakter als soziale Leistung und Eingriff in die Freiheit des Betroffenen. Nichts anderes könne für die in § 1906 Abs. 5 BGB vorgesehene gerichtliche Kontrolle gelten, die nur dann als
Eingriff in die Selbstbestimmung der Betroffenen hinzunehmen sei, wenn sie deren Wohl diene.
Andernfalls mache § 1906 Abs. 5 BGB die gerichtliche Zuständigkeit im Bereich der
Vorsorgevollmacht zum Normalfall und diese damit wertlos; unter der Überschrift der Stärkung des Selbstbestimmungsrechts kehre die Norm die Verhältnisse zu einer staatlichen Bevormundung in diesem Bereich als Regelfall um. Das Ziel, die Privatautonomie des Vollmachtgebers zu stärken und
staatliche Einmischung zu vermeiden, werde damit verfehlt.

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Die zeitliche Befristung der Genehmigung mache zudem die wiederholte gerichtliche Entscheidung
erforderlich, was für Betroffene und Bevollmächtigte mit erheblichen Kosten verbunden sei. Der darin
liegende Eingriff sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil bei Verdacht des Missbrauchs der
Vollmacht jederzeit etwa auf Antrag der Pflegeeinrichtung eine Kontrollbetreuung nach § 1896 Abs. 3
BGB angeordnet werden könne. Die Behauptung des Landgerichts, die Kontrollbetreuung könne den
Schutz nicht gewährleisten, sei nicht nachvollziehbar. Sonstige Gründe für die Missachtung des durch
Art. 2 Abs. 1 GG garantierten Selbstbestimmungsrechts der Beschwerdeführerin zu 1. seien ebenfalls
nicht ersichtlich. Der in Art. 104 Abs. 2 GG normierte Richtervorbehalt gelte nur für den Fall einer
auf Grund eines Gesetzes angeordneten Freiheitsbeschränkung durch die öffentliche Gewalt. Beruhe
die Freiheitsbeschränkung auf Selbstbestimmung, sei der Richtervorbehalt von vornherein nicht
tangiert.

Der Gesetzgeber habe auch die Patientenverfügung ausdrücklich anerkannt und in § 1904 Abs. 5 BGB
eine betreuungsgerichtliche Genehmigung nur vorgesehen, wenn zwischen Bevollmächtigtem und Arzt
unterschiedliche Auffassungen oder Zweifel über den Behandlungswillen der Betroffenen bestünden.
Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts sei vom Gesetzgeber selbst für diesen besonders
einschneidenden Bereich lebensverlängernder Maßnahmen unterstrichen worden und müsse erst recht
bei der Einwilligung in weit weniger einschneidende Maßnahmen zum Tragen kommen. Die
Anwendung des § 1906 Abs. 5 BGB unter Missachtung des eindeutig zum Ausdruck gebrachten
gegenteiligen Willens der Betroffenen sei daher mit Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar. Wäre die Norm
gleichwohl unabdingbar, so wäre sie verfassungswidrig. Deshalb müsse die Norm verfassungskonform
dahingehend ausgelegt werden, dass die gerichtliche Genehmigung trotz wirksamer Vollmacht nur in
den Fällen eingeholt werden müsse, in denen auch die Voraussetzungen für die Bestellung einer
Kontrollbetreuung vorlägen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 27. Juni 2012 wies der Bundesgerichtshof die Rechtsbeschwerde als
unbegründet zurück. Auf die durch § 1906 Abs. 5 Satz 1, Satz 2 in Verbindung mit Abs. 4, Abs. 2 BGB
angeordnete gerichtliche Überprüfung der durch den Bevollmächtigten erteilten Einwilligung könnten
die Betroffenen nicht vorgreifend verzichten. Dies folge aus der Natur des Überprüfungsgegenstandes.
Der Genehmigungsvorbehalt des § 1906 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 2 BGB diene dem Schutz der
Betroffenen (mit Hinweis auf BTDrucks 13/7158 S. 34). Unter die Kontrolle des Betreuungsgerichts sei nicht die in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts erfolgte Entscheidung der Betroffenen gestellt,
sondern die gesetzesgemäße Handhabung der Vorsorgevollmacht durch den Bevollmächtigten. Damit
solle sichergestellt werden, dass die Vorsorgevollmacht im Sinne der Betroffenen ausgeübt werde.
Diese Kontrolle diene der Sicherung des – in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts – artikulierten
Willens der Betroffenen. Die zugleich hierin liegende Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts sei
verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit nicht schrankenlos, sondern nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese
sehe ein Genehmigungsverfahren nach § 1906 Abs. 2 BGB zwingend vor, dessen Verhältnismäßigkeit
angesichts der möglichen Tragweite freiheitsentziehender Maßnahmen außer Zweifel stehe.

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